Menschenrechte

Einleitung, Begriffserklärung, ethische Fragestellung/Problematisierung

Allgemein versteht man unter Menschenrechten solche Rechte, die einem Menschen aufgrund der Tatsache, dass er ein Mensch ist, zugesprochen werden. Während also z.B. Bürgerrechte nur von den Bürgern eines Staates eingefordert werden können, gelten Menschenrechte – der Idee nach – für alle Menschen unabhängig von ihrem Status oder ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Staaten. In der Praxis zeigen sich allerdings große Unterschiede zwischen einzelnen Staaten, wie konsequent und umfassend Menschenrechte tatsächlich gewährt werden. Zwischen dem allgemeinverbindlichen Anspruch der Idee von Menschenrechten und der tatsächlichen Anerkennung bzw. Geltung besteht nach wie vor eine tiefe Kluft.

Noch schwieriger wird das Problem der Allgemeinverbindlichkeit bei der Frage, was nun konkret Menschenrechte sein sollen. Ausgehend von der Idee, dass es solche Rechte sind, die dem Menschen als Menschen unabhängig von Herkunft, Rasse, Religion, Geschlecht, wirtschaftlicher und sozialer Stellung, sexueller Orientierung, usw. zukommen, lässt sich schnell Einigkeit darüber erzielen, dass es Rechte sein sollen, die das Menschsein an sich schützen. Dadurch wird das Problem allerdings nur verlagert: Was "Menschsein" bedeutet und wie es geschützt werden kann, ist umstritten.

Mit diesem Problem hängt die Problematik der Festlegung und Veränderlichkeit der konkreten Menschenrechte zusammen: Leiten sich Menschenrechte aus der Natur des Menschen oder von göttlichem Willen ab? Sind sie also unveränderlich über alle Zeiten hinweg gleich? Oder sind sie das reine Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse, können also neu festgelegt werden und sind entsprechend an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Inhalten verbunden?

Ist auf der einen Seite klar, wer Menschenrechte einfordern kann, nämlich jeder Mensch, ist ebenfalls umstritten, gegenüber wem diese Rechte geltend gemacht werden können. Aus der historischen Entstehung hat sich ergeben, dass Menschenrechte zunächst Rechte des Einzelnen gegenüber einem Staat sind. Inzwischen wird allerdings auch diskutiert, inwieweit Menschenrechte vom Einzelnen gegenüber Unternehmen oder Institutionen eingefordert werden können bzw. inwieweit der Einzelne verpflichtet ist, die Menschenrechte des Anderen zu achten.

Bereits diese ausgewählten Problemlagen zeigen, dass das Thema Menschenrechte mit politischen, rechtlichen und moralischen Aspekten verbunden ist.

    Basisinformationen

    Die Idee, die im Hintergrund der Menschenrechte steht, nämlich, dass jeder Mensch als Mensch einen Wert, der unabhängig von seinem Verhalten ist, besitzt, also die Idee der Menschenwürde, wurde bereits in der Antike entwickelt. Doch erst in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und im Zuge der Französischen Revolution (1789) wurden ausgehend von dieser Idee konkrete, einklagbare Rechte formuliert. Ab diesem Zeitpunkt kann also wirklich von Menschenrechten gesprochen werden. Trotz des Bezugs auf den Menschen an sich bleibt die Wirksamkeit dieser Menschenrechte jedoch auf ein Territorium, nämlich das jeweilige Staatsgebiet, beschränkt. Hinzu kommt, dass die Menschenrechte weiterhin großen Gruppen, wie Frauen, Kindern oder Sklaven, vorenthalten werden, so dass sie – entgegen des Wortlauts und Anspruchs – der Figur der Bürgerrechte (begrenzte Gruppe innerhalb eines begrenzten Gebiets) näherstehen.

    Im Zuge der Diskussion um die Gründung der Vereinten Nationen kamen Menschenrechte nun auf internationaler Ebene zur Sprache: Engagierte Völkerrechtler, humanitäre Organisationen und einige Staaten des Südens trieben die Diskussion voran. Motiviert war dieses Bemühen gerade zu Beginn vor allem durch Erfahrungen verfolgter Minderheiten, rassistischer Ausgrenzungen und durch den Umgang der Kolonialmächte mit den Bevölkerungen ihrer Kolonien. Erst später spielten auch die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft – insbesondere des Holocaust – eine Rolle. Im Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung bei acht Enthaltungen (Sowjetunion, Weißrussland, Ukraine, Polen, CSSR, Jugoslawien, Saudi-Arabien und Südafrika) angenommen. Bei diesem Dokument handelt es sich allerdings nur um eine Absichtserklärung, den darin formulierten Menschenrechten weltweit Geltung zu verschaffen. Sie ist aber der Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf zahlreiche internationale, rechtlich bindende Abkommen geschlossen und internationale Organisationen zum Schutz der Menschenrechte gegründet wurden.

    Im Vergleich zu den nationalen Ansätzen im 18. Jahrhundert kann die internationale Ausrichtung als Fortschritt gewertet werden. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die Geltung und Durchsetzung von Menschenrechten immer noch vom Engagement der einzelnen Staaten abhängt. Wie alle rechtlichen Regelungen hängt auch die rechtliche Bindung internationaler Abkommen am Willen der politischen Akteure sich diesem Recht zu unterwerfen. Die bisherigen Versuche grobe Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Staaten (z.B. Somalia, Jugoslawien, Ruanda) durch militärische Interventionen unter internationaler Aufsicht zu unterbinden, sind aus unterschiedliche Gründen gescheitert. Sie haben dem Menschenrechtsgedanken selbst eher geschadet: Sowohl bei der Entscheidung einzugreifen oder nicht aktiv zu werden als auch bei der Gestaltung der Operationen wurde deutlich, dass andere Interessen als der Schutz der Menschenrechte Vorrang hatten. Unter anderem dadurch ist die Figur der Menschenrechte als vorgeschobenes Argument zur Durchsetzung anderer politischer Interessen bzw. als Lippenbekenntnis, dem im entscheidenden Moment keine Bedeutung zukommt, in Verruf geraten.

    Im Verlauf der Entwicklung nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist deutlich geworden, dass erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, was der konkrete Inhalt der Menschenrechte sein soll. In der Diskussion hat sich die Unterscheidung verschiedener Generationen von Menschenrechten etabliert:

    Bei den Menschenrechten der ersten Generation (amerikanische Unabhängigkeit und Französische Revolution) geht es einerseits um Freiheitsrechte, die sich dadurch auszeichnen, dass sie das Handeln des Staates einschränken. Meinungsfreiheit beispielsweise bedeutet dann, dass der Staat keine bestimmte Meinung fordern darf. Andererseits geht es um politische Mitbestimmungsrechte, wie z.B. das Recht auf Wahlen. Das Problem – vor allem der so verstandenen Freiheitsrechte – ist, dass sie nur dem helfen, der nicht auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen ist. Ein Recht darauf, dass der Staat nicht das Eigentum seiner Bürger angreifen darf, ist nur für denjenigen von Belang, der bereits Eigentum besitzt.

    Die zweite Generation (russische Revolution, New Deal Politik Roosevelts) reagiert gewissermaßen auf dieses Problem der ersten Generation. Die Rechte dieser Generation sind Rechte auf Unterstützung des Einzelnen durch den Staat, wie z.B. das Recht auf Nahrung oder Arbeit. Die Schwierigkeit dieser Rechte lässt sich gut am Recht auf Arbeit zeigen: Zumindest in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft kann der Staat gar nicht garantieren, dass jeder Arbeit bekommt, weil er dann unzulässig in die Freiheit der wirtschaftlichen Akteure eingreifen müsste.

    Unter der Bezeichnung Menschenrechte der dritten Generation (Eigenständigkeit der Kolonien) werden Rechte zusammengefasst, die sich vielleicht am besten noch als "Solidaritätsrechte" beschreiben lassen: das Recht auf Entwicklung sowie die Rechte lebender und nachfolgender Generationen auf Schutz vor Zerstörung der Umwelt und auf Bewahrung der kulturellen Vielfalt. Eine zentrale Schwierigkeit dieser Rechte ist, dass unklar ist, wer sie einfordern und wer sie zu gewähren hat. So war das Recht auf Entwicklung zunächst als Recht der ärmeren Länder auf Unterstützung durch reichere Staaten angedacht, wandelte sich allerdings im Lauf der Zeit zu einem Recht des Einzelnen gegenüber seinem Staat, dessen Verwirklichung allerdings von der internationalen Zusammenarbeit der Staaten abhängt. Noch schwieriger ist diese Frage bei den Rechten, die sich auf zukünftige Generationen beziehen. Daneben ist noch unklarer als bei den Rechten der zweiten Generation, wie sie umzusetzen sind: Schließlich bedarf es bei ihnen nicht nur einer nationalen, sondern gar einer internationalen Einigung, über die Wege zur Umsetzung dieser Rechte.

    Die evangelische Ethik diskutiert im Zusammenhang der Menschenrechte vorwiegend folgende Fragen: Können Menschenrechte mit dem christlichen Glauben vereinbart werden? Welche Rolle sollen Kirchen und Theologie in Bezug auf die Menschenrechte spielen? Inwiefern sollen Menschenrechte innerhalb der Kirche (z.B. im Rahmen von Arbeitsverhältnissen) gelten?

    a. Rechtliche Regelungen

    Bei rechtlichen Regelungen lassen sich drei Formen unterscheiden:

    1. Regelungen auf nationaler Ebene

    Viele Staaten greifen in ihrer Verfassung Menschenrechte auf oder formulieren an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte angelehnte Grundrechte. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sind diese die Menschenrechte spiegelnden Grundrechte der Veränderung durch den Gesetzgeber entzogen. Neben verfassungsrechtlichen Regelungen stehen allerdings auch einfach gesetzliche Regelungen, die sich als konkrete Umsetzungen der menschenrechtlich vorgegebenen Standards – sei es durch die Verfassung, sei es durch internationale Abkommen – verstehen lassen. Die nationale Ebene ist nach wie vor für die Umsetzung und tatsächliche Geltung der Menschenrechte von entscheidender Bedeutung, da auf internationaler Ebene keine Exekutivgewalt vorhanden ist.

    2. Regionale Menschenrechtsabkommen, also Abkommen zwischen Staaten eines bestimmten geographischen Raums

    Die Idee solcher Abkommen ist, dass eine begrenzte Anzahl von Staaten, die zu einem ähnlichen kulturellen Raum gehören, sich schneller auf verbindliche Abkommen einigen können. Zugleich können solche regionalen Abkommen Vorbildcharakter für weltweite Absprachen gewinnen und die kulturellen Eigenheiten besser beachten. Vorreiter solcher geographisch-beschränkter Abkommen ist die europäische Menschenrechtskonvention, die bereits 1953 in Kraft trat und mehrfach erweitert wurde. Besonders hervorzuheben ist bei dieser Menschenrechtskonvention die Möglichkeit der Individualbeschwerde am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die in ihrer heutigen Form 1994 eingeführt wurde, aber auch bereits vorher – in eingeschränktem Maße – möglich war.

    Die amerikanische Menschenrechtskonvention wurde 1969, die afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker 1986 und die arabische Charta der Menschenrechte 2008 unterzeichnet.

    3. Internationale Abkommen mit dem Ziel weltweiter Geltung

    Auf Ebene der Vereinten Nationen (UN) sind zahlreiche internationale Abkommen entstanden, die allerdings in unterschiedlichem Maße von einzelnen Staaten ratifiziert worden sind. Da die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 nur den Status einer Willenserklärung hat, wurde in den 1950er und 1960er Jahren intensiv daran gearbeitet, ein internationales Abkommen zu entwickeln, das die dort formulierten Menschenrechte für die unterzeichnenden Staaten rechtsverbindlich macht. Aufgrund der fortschreitenden Blockbildung des Kalten Kriegs gelang es allerdings nicht ein gemeinsames Abkommen zu verhandeln. Stattdessen einigte man sich auf zwei Pakte, der eine vom Westen vorangetriebene mit dem Schwerpunkt auf die Menschenrechte der ersten Generation ("Zivilpakt"), der andere vom Osten forcierte mit dem Schwerpunkt auf die Menschenrechte der zweiten Generation ("Sozialpakt"). Beide Pakte wurden 1966 von der UN-Generalversammlung beschlossen, traten allerdings erst 1976 in Kraft, nachdem die notwendige Mindestzahl an Staaten die Pakte ratifiziert hatte. Dabei unterzeichnete die Mehrzahl der Staaten beide Pakte. Heute haben 169 Staaten den Zivilpakt, 166 Staaten den Sozialpakt angenommen.

    Neben diesen beiden umfassenderen Abkommen verfolgte man zunächst die Strategie einzelne, besonders drastische Menschenrechtsverletzungen durch internationale Abkommen zu unterbieten, z.B. durch die Übereinkunft gegen Rassendiskriminierung (1965) oder die Konvention gegen Folter (1984). Vor allem in neuerer Zeit werden Konventionen zum Schutz besonders bedrohter Gruppen entwickelt, z.B. die Kinderrechtskonvention (1989) oder die Behindertenrechtskonvention (2006).

    Im Rahmen der jeweiligen Abkommen werden auch unterschiedliche Verfahren zur Überwachung bzw. Unterstützung der Einhaltung entwickelt. Einerseits handelt es sich dabei um Verfahren, die öffentlichen Druck aufbauen, indem Menschenrechtsverletzungen transparent gemacht werden, andererseits gibt es Verfahren, die auf die Kooperation der Staaten setzen und vorwiegend durch direkte Beratung Menschenrechtsverletzungen zukünftig zu verhindern suchen. Gemeinsam ist all diesen Verfahren und internationalen Institutionen, dass sie keine Möglichkeit eines direkten Eingreifens vorsehen, sondern die Souveränität der betroffenen Länder respektieren.
     

    b. Ethische Debatte

    Eine zentrale Streitfrage in der ethischen Debatte ist, ob und falls ja, wie sich Menschenrechte begründen lassen. Des Weiteren wird diskutiert, ob Menschenrechte überhaupt eine moralische oder bloß eine politisch/rechtliche Angelegenheit sind, wie sich Menschenrechte zu Pflichten verhalten und inwiefern sie universell gültig sind. Die Positionierung in diesen Fragen hängt dabei oft vom gewählten Weg der Begründung ab.

    Schematisch lassen sich – nach Menke/Pollmann – in der philosophischen Diskussion um die Begründung von Menschenrechten drei Gruppen unterscheiden:

    1. Vertragstheoretische Begründung

    Dieser Begründungstyp geht davon aus, dass alle Menschen gemeinsame Interessen haben, die dann am sichersten verfolgt werden können, wenn sich alle Menschen bestimmte Rechte gegenseitig zubilligen. In der klassischen Variante, z.B. bei John Locke, handelt es sich um Interessen, die der Mensch von Natur aus verfolgt. Die weiterentwickelte Variante von Ottfried Höffe reagiert auf das Problem, dass die Natürlichkeit solcher Interessen unter Verweis auf die hohe Kulturabhängigkeit leicht hinterfragt werden kann. Er versucht deshalb sogenannte "transzendentale Interessen" zu bestimmen, also Interessen, die die Grundlage dafür bieten, überhaupt andere, kulturabhängige Interessen zu verfolgen. So teilen z.B. alle Menschen das Interesse, kein Opfer von Gewalt zu werden.

    Die im Vertrag grundlegende Figur der Wechselseitigkeit führt dazu, dass Menschenrechten entsprechende Menschenpflichten zugeordnet werden: Die Rechte können in letzter Konsequenz der Logik dieses Modells nur von dem geltend gemacht werden, der auch die Pflichten anerkennt und erfüllt. Hier tritt also zum Menschsein als Bedingung für die Inanspruchnahme von Menschenrechten eine weitere Voraussetzung hinzu.

    Ein weiteres Problem des Ansatzes besteht darin, plausibel zu machen, weshalb eine wechselseitige Zusicherung aller Menschen nötig ist, um bestimmte Interessen zu verfolgen. Um das Interesse, kein Opfer von Gewalt zu werden, zu verfolgen, ist es beispielsweise nur nötig, jeweils denen Gewaltfreiheit zuzusichern, die überhaupt in der Lage sind, Gewalt auszuüben. Schwächere Gruppen können so ausgeschlossen werden. Verhindern lässt sich diese Tendenz nur durch weitere Zusatzannahmen wie beispielsweise Rohls "Schleier des Nichtwissens", also ein gedanklicher Vertragsschluss unter der Bedingung, dass kein Vertragspartner weiß, in welcher Position er nach Vertragsschluss sein wird. Eine Begründung der Menschenrechte durch vertragstheoretische Überlegungen setzt also in letzter Konsequenz bereits den Willen voraus, alle Menschen als gleichberechtigt und gleichwertig anzusehen.

    2. Begründung aus der Vernunft

    Die klassische Variante von Immanuel Kant geht davon aus, dass ein vernünftiger Mensch andere Menschen ebenfalls als vernünftige Menschen erkennt und ihnen folglich den gleichen Wert wie sich selbst zuschreibt. Ein Mensch, der gemäß seiner Vernunft handelt, kann den anderen Menschen also nie nur als Mittel zum Erreichen eines Ziels begreifen, sondern muss zugleich immer respektieren, dass der andere Mensch selbst Zwecke setzt, also eine eigene Würde besitzt. In Form des kategorischen Imperativs formuliert Kant wie folgt: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest."

    Die Schwierigkeit dieser Begründung besteht darin, dass ein normativer Vernunftbegriff zugrunde gelegt wird: Vernünftig bedeutet in Kants Deutung, dass es vor jedem zu rechtfertigen ist. Im Gegensatz zu einem "schwachen" Vernunftbegriff, der z.B. das Vermögen des Argumentierens, des logischen Schlussfolgerns, des Planens oder Entscheidens meint, kann der "starke" Vernunftbegriff nicht als allgemein in der Natur des Menschen verankert begriffen werden. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass das Grundelement der Idee der Menschenrechte, das mit der Vernunft begründet werden soll, im verwendeten Vernunftbegriff selbst steckt: Der Gedanke der Rechtfertigung vor anderen beinhaltet letztlich die Anerkennung der anderen selbst und damit die Basis der Menschenrechtsidee.

    Weiterentwickelt wurde Kants Idee in der Diskurstheorie, indem der Vernunftbegriff differenziert wird. Jürgen Habermas zeigt, dass in der kommunikativen Vernunft die Anerkennung und Respektierung des Kommunikationspartners angelegt ist. Entsprechend kann die Basis der Menschenrechtsidee als Voraussetzung von vernünftigen Diskursen nachgezeichnet werden. Damit kann ein starker Vernunftbegriff plausibel begründet werden. Warum nun aber mit allen Menschen vernünftig kommuniziert werden soll und warum nicht einzelnen Gruppen gegenüber auf strategisches, also mit Macht arbeitendes Handeln statt auf kommunikatives Handeln im herrschaftsfreien Diskurs gesetzt werden darf, lässt sich letztlich nicht begründen. Erst wenn bereits die Einstellung vorhanden ist, alle Menschen als gleichwertig anzusehen, ist plausibel, weshalb Kommunikation statt Herrschaft anzustreben ist.

    3. Gefühlsbasierte Begründung

    In der klassischen Variante, z.B. bei Jean-Jacques Rousseau, werden Menschenrechte in gewissen, allen Menschen gemeinsamen, Gefühlen wie Mitgefühl oder Sympathie begründet. Hier wird also das, was bei den beiden anderen Begründungstypen jeweils vorausgesetzt werden muss, eigens thematisiert: Die Anerkennung des anderen als anderen. Allerdings wird in der klassischen Variante nicht ausreichend reflektiert, dass die zugrundeliegenden Gefühle nicht zwangsläufig zu Menschenrechten führen müssen. Sie können durch andere Gefühle unterdrückt oder nur auf einzelne Menschen oder Gruppen bezogen werden, wie die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts eindrücklich gezeigt haben.

    Diese Einsicht hat Richard Rorty dazu veranlasst, die Anerkennung des anderen nicht als natürliche Konstante des Menschseins zu rekonstruieren, sondern sie als eine geschichtlich kontingente Praxis zu begreifen. Diese Einstellung entsteht durch Einüben. Sie ist nicht das Ergebnis einer notwendigen Entwicklung und lässt sich nicht aus einem höheren Prinzip oder tieferen Grund ableiten oder beweisen. Deshalb lehnt Rorty auch jede weitergehende Auseinandersetzung oder Verständigung darüber ab, weshalb diese Praxis fortgeführt werden soll. Damit übersieht er allerdings, dass solche Verständigungsprozesse nicht notwendigerweise die eigene Praxis für Außenstehende begründen wollen, sondern oftmals der Klärung dienen, wie die Anerkennung des anderen in der Lebenspraxis umzusetzen ist: so verstanden, können vertragstheoretische Überlegungen oder Reflexionen über den Zusammenhang von Vernunft und allgemeiner Rechtfertigung durchaus hilfreich sein.

    Wie bereits gesehen, neigen vertragstheoretische Lösungen dazu, Menschenrechte und Menschenpflichten eng aufeinander zu beziehen. Auch in der Diskurstheorie gibt es die Tendenz dazu, die Wechselseitigkeit zu betonen: der Diskursteilnehmer muss den anderen Teilnehmern die gleichen Rechte gewähren, die er selbst gewährt bekommt. Die gefühlsbasierte Begründung hingegen ist in der Regel unabhängig vom Verhalten des Gegenübers, da die grundsätzliche Anerkennung des anderen in dem Subjekt verankert ist, das den anderen respektiert.

    Die Idee der Menschenrechte ist mit einer Idee der Universalität verbunden: Rechte, die qua Menschsein in Anspruch genommen werden können, erstrecken sich auf alle Menschen. Die klassischen Varianten der drei Begründungstypen entwickeln den Gedanken der Universalität über den Bezug auf die Natur des Menschen (allen Menschen gemeinsame Interessen, Vernünftigkeit oder Gefühle). An dieser Verankerung in der Natur des Menschen konnte allerdings spätestens nach den Erfahrungen mit totalitären Systemen nicht mehr festgehalten werden. Sie haben gezeigt, dass unter Verweis auf Interesse, Vernunft und Gefühle breite Massen zu gänzlich anderen Überzeugungen gebracht werden können als der Menschenrechtsgedanke sie beinhaltet. In der neueren Diskussion gibt es deshalb den Standpunkt, dass die Universalität der Menschenrechte nicht bedeutet, dass sie von allen anerkannt werden müssen, sondern dass sie darin besteht, dass wo immer sie anerkannt werden, kein Mensch ausgeschlossen werden darf. Mit dieser Argumentation kann einer Ablehnung der Universalität der Menschenrechte aus einer kulturrelativistischen Position heraus begegnet werden.

    Die Position, dass Menschenrechte moralischer Natur sind, besagt, dass Menschenrechte dem Staat von außen, nämlich durch die Moral, vorgegeben sind. Entsprechend sind Menschenrechte auch nicht nur im Verhältnis Staat – Individuum relevant, sondern auch im zwischenmenschlichen Umgang. Diese Position ist z.B. in der amerikanischen Verfassungstradition maßgeblich. Jeder Mensch besitzt die Menschenrechte von Geburt an. Sie werden ihm also nicht vom Staat gewährt, sondern existieren unabhängig von ihm.

    Die Gegenposition sieht in den Menschenrechten das Ergebnis eines politischen Prozesses. Der Staat hat sich selbst die Menschenrechte als Grenze gesetzt. Entsprechend haben Menschenrechte ihren Ort im Politischen, also im Verhältnis Staat – Individuum. Für zwischenmenschlichen Beziehungen sind sie nur insofern relevant wie der Staat zum Schutze der Menschenrechte seiner Bürger gesetzliche Regeln aufgestellt hat.

    Auch wenn es zunächst den Anschein hat, dass die Menschenrechte als vorstaatliche, also moralische Rechte größeres Gewicht haben, stellt sich bei näherem Hinsehen heraus, dass diese Position die Geltung der Menschenrechte letztlich schwächt. Sie suggeriert, dass der Staat die größte Bedrohung für Menschenrechte darstellt. Tatsächlich aber werden Menschenrechte einerseits durch fehlende staatliche Gewalt zu leeren Rechten, andererseits sind es politische Prozesse innerhalb eines Staates, die zur Missachtung der Menschenrechte führen. Entsprechend kann eine Position, die den politischen Prozess selbst in den Vordergrund stellt, für die wahren Probleme deutlich besser sensibilisieren. Eine politische Konzeption der Menschenrechte führt vor Augen, wie wichtig die dauerhafte, wiederkehrende Plausibilisierung der Menschenrechte für ihre Geltung ist. Zudem kann sie wesentlich besser auch eine Weiterentwicklung der Menschenrechte mitdenken.
     

    c. Evangelische Perspektive

    In der deutschsprachigen evangelischen Theologie werden die Menschenrechte bis in die 1950er Jahre sehr kritisch gesehen. Als größte Gefahr für den Menschen gilt nicht die Übergriffigkeit des Staates, sondern die egoistische Vereinzelung des Individuums. Staatliche Ordnung gilt als Ordnung Gottes gegen die Sündhaftigkeit des Menschen. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und angeregt durch die internationale ökumenische Debatte gelangt die neue Theologengeneration nach dem zweiten Weltkrieg zu einer positiven Einschätzung der Menschenrechte und arbeitet heraus, dass sie in Einklang mit dem christlichen Glauben stehen. Entscheidende Anknüpfungspunkte sind die Gottesebenbildlichkeit des Menschen sowie die Rechtfertigungslehre. Die dominanten Positionen in der Debatte (Jürgen Moltmann, Martin Honecker, Trutz Rendtorff, Heinz-Eduard Tödt, Wolfgang Huber) erkennen grundsätzlich die Säkularität – wenn auch in unterschiedlichem Maße – der Menschenrechte an und verabschieden sich von einem Modell, das die Menschenrechte als direktes Ergebnis des Christentums ansieht.

    Aktuell dominiert die Position, die die Menschenrechte als moralische Vorgabe versteht. Entsprechend wird die Aufgabe der Kirche und Theologie vor allem in der Mitwirkung an einem vorstaatlichen Konsens sowie in der "Wächterfunktion" gegenüber dem Staat gesehen. Damit besteht die Gefahr, dass die Kirche – trotz gegenteiliger Beteuerungen – im Gestus klerikaler Bevormundung agiert. Die Dimension, dass Kirche selbst Teil der gesellschaftlichen und politischen Prozesse ist, sei es auf individueller Ebene der Mitglieder, als Vertreter eigener "Lobbyinteressen" oder als religiöse Gemeinschaft, die plurale Positionen innerhalb eines nicht fest definierbaren Korridors nach innen und außen vertritt, wird dabei nicht beachtet. Mit anderen Worten, die enge Verbindung von Menschenrechten und demokratischen Prozessen wird nicht ausreichend berücksichtigt.

    Nach gängiger Auffassung lassen sich Menschenrechte nicht eins zu eins auf den innerkirchlichen Bereich anwenden, da für innerkirchliche Angelegenheiten der Bezug auf die Aufgabe der Kirche maßgeblich ist. Allerdings können einige Grundregeln analog zu den Menschenrechten benannt werden, wie z.B. geschwisterlicher Umgang oder Partizipation. Auch hier wird die wechselseitige Beeinflussung von Kirche und Gesellschaft und damit auch die Weiterentwicklung kirchlicher Rahmenbedingungen kaum bedacht.

    a. Möglichkeiten der Operationalisierung

    Im Unterricht

    In der Predigt kann das Thema Menschenrechte im Zusammenhang der Reich-Gottes-Vorstellung thematisiert werden. Dabei droht die Gefahr einer Gleichsetzung der Menschenrechtsbewegung und der anbrechenden Gottesherrschaft. Entsprechend ist es sinnvoll, gerade die Unterschiede der beiden Vorstellungen herauszuarbeiten. Es kann z.B. die Frage gestellt werden, ob eine Welt, in der die Menschenrechte zur vollen Geltung gekommen sind, der Gottesherrschaft entsprechen würde. Die eschatologische Hoffnungsperspektive kann als Entlastung von Ohnmacht und Resignation angesichts der – letztlich unlösbaren – Widersprüche und Schwierigkeiten aller Menschenrechtskonzeptionen dienen. Sie ermöglicht so die realistische und schonungslose Analyse der gegenwärtigen Situation und damit letztlich den Einsatz für eine Verbesserung unter gegebenen Bedingungen ohne innerweltliche Heilsfantasien.

    Die Übereinstimmung zwischen grundsätzlicher Annahme aller Menschen in der christlichen Überlieferung und der Basis der Menschenrechtsidee kann ebenso thematisiert werden wie die Spannung innerhalb des christlichen Glaubens zwischen Feindesliebe und Abgrenzung gegen "Ungläubige".

    Ebenso können Strukturparallelen zwischen der bedingungslosen Annahme des Sünders in der Figur der Rechtfertigungslehre und der unbedingten Geltung von Menschenrechten unabhängig vom Verhalten des Einzelnen aufgezeigt werden.
     

    b. Fragen/Thesen zur Diskussion

    1. Wie unterscheiden sich Menschenrechte und Reich-Gottes-Vorstellung?

    2. Können Menschenrechte ohne Demokratie verwirklicht werden?

    3. Wie lässt sich der konkrete Inhalt von Menschenrechten bestimmen?

    4. Lässt sich eine Rangfolge zwischen den bestehenden Menschenrechten erstellen?

    Veröffentlicht am 12.10.2017 (Version 1.0).

    Zitierweise:
    große Deters, M.: Art. "Menschenrechte" (Version 1.0 vom 12.10.2017), in: Ethik-Lexikon, verfügbar unter: https://ethik-lexikon.de/lexikon/menschenrechte.